Seit März dreht sich die Welt anders als sonst. Es erscheint sehr sinnvoll, dass wir uns von anderen, haushaltsfremden Menschen fernhalten. Das fällt vielen Menschen -auch mir- durchaus grundsätzlich schwer und alleine durch die Tatsache, dass die Gefahr nicht direkt sicht- und greifbar ist, wird das notwendige „physical distancing“ noch irrationaler, als es schon ist. Wir wollen mit anderen Menschen unterwegs sein, aber wir sollten es besser nicht!
In solchen Zeiten eine Critical Mass zu bilden, ist unvernünftig!
Seit März gibt es regelmäßig, gegen Ende des Monats in Social Media, per e-Mail und auch hier Anfragen und Diskussionen. Das reicht von „wir können doch fahren, oder?“ über „wir haben ja jetzt lange genug gewartet“ bis hin zu „das ist doch eh alles nur Panikmache!“ Und natürlich gibt es Spitzfindigkeiten, wie man die CoronaSchVO „austricksen“ kann – witzigerweise oftmals von Menschen, die den „Vater“ dieser Verordnung, den Ministerpräsidenten des Landes NRW, Armin Laschet, der sich ja eher für Lockerungen eingesetzt hat, normalerweise für nicht gerade den Fähigsten halten. Dazu kommen Anfragen von Pressevertretern, die ganz unverhohlen nachfragen, „wo und wann“ denn am Freitag „die größte Gruppe im Bild zu sehen sein wird.“, um tolle Bilder für ihre Reportage über den „Fahrradboom“ zu haben.
„Wir“, nämlich die Menschen, die sich regelmäßig als Critical Mass mit hunderten im öffentlichen Raum und Straßenverkehr bewegen, beziehen uns -berechtigterweise- auf Gesetze und Regeln, z.B. die Verbandsregel nach §27 der StVO (Straßenverkehrsordnung), obwohl uns regelmäßig -auch von der Polizei- vorgeworfen wird, wir würden etwas verbotenes tun (was nachweislich nicht der Fall ist). Wir verhalten uns ausnahmslos gesetzestreu und regelkonform und genau das sollten wir jetzt auf jeden Fall auch tun. Und in jedem Fall sollten wir darüber hinaus vorsichtig und vernünftig sein!
DieCoronaSchVO NRW lässt in §13 unter bestimmten Voraussetzungen zwar durchaus Spielraum für Gruppenfahrten zu, allerdings sind dies eben Spitzfindigkeiten – wer will tatsächlich behaupten, dass in einer Verbandsfahrt mit Fahrrädern ein Mindestabstand von 1,5 Metern permanent eingehalten werden kann? Und selbst wenn: ist das dann überhaupt noch ein *geschlossener* Verband?
Darüber hinaus kann man sogar bezweifeln, dass ein Abstand von 1,5 Metern beim Radfahren überhaupt reicht, gerade bei Anstrengung, dazu gibt es Studien – z.B. diese: „Social Distancing v2.0: During Walking, Running and Cycling„, die hier nochmal erläutert wird:
Der Befund dieser aufwendigen Studie besagt, dass der bisher vorgegebene Mindestabstand von 1.5 Meter beim Radfahren/Laufen anscheinend bei weitem nicht ausreicht um eine Infizierung mit dem Covid-19-Virus auszuschließen. Für Sportler, die hintereinander Laufen/Radfahren ist das Infektionsrisiko demnach deutlich größer als für jene, die nebeneinander unterwegs sind. Die Empfehlungen der Forscher lauten: Spaziergänger sollten mindestens vier bis fünf Meter Abstand zu dem nächsten Menschen vor sich lassen, Läufer und langsame Radfahrer rund zehn – und sportive, schnelle Radfahrer 20 Meter.
https://www.dreilaenderbike.de/startseite/abstandsregeln.html
Zehn Meter Abstand werden also empfohlen (hier gibt es noch ein Video, wo die Studie erläutert und auch visualisiert wird). In meinen beiden Radsportvereinen gibt es keine Fahrten >12 Leute und selbst da werden die Daten zur Rückverfolgung erhoben (man trägt sich vorher online oder vor Ort in eine Liste ein), obwohl wir uns alle kennen. Wie soll man das bei einer Critical Mass handhaben, wenn man vernünftig sein will?
Lasst uns also einfach vernünftiger sein, als unser Ministerpräsident und derzeit keine Massen bilden!
Aber davon abgesehen: ich bin kein Virologe, ich habe keinen Sachverstand, außer meiner Intelligenz und einer Allgemeinbildung und kann das oben erläuterte und verlinkte letztlich nur glauben, weil es logisch erscheint und weil ich davon ausgehe, dass die Wissenschaftler ihr Handwerk verstehen und ihrer Profession gerecht werden. Ich möchte allerdings allen, die der Meinung sind, „man kann ja trotzdem fahren“ noch einmal folgendes zu denken geben:
Habt ihr Menschen in Eurer näheren Umgebung, die an Covid-19 gestorben sind (bei mir sind es zwei. Jung, keine Risikogruppe, tot)?
Kennt ihr Menschen, die in unserem (wie ich finde durchaus hervorragenden) Gesundheitssystem arbeiten und ab März (genügende auch schon vorher) überlastet waren?
Kennt Ihr Menschen, die z.B. in der Veranstaltungsbranche o.ä. arbeiten und einen zweiten Lockdown schlicht (mindestens wirtschaftlich) nicht überleben werden? (ich kenne Dutzende, die eigentlich jetzt schon nicht überleben. Und ich kenne einen, den das gar in den Suizid getrieben hat)
Aber andere Städte fahren doch auch? Bonn, Wuppertal, Düsseldorf!
Ja. Aber wir sind die Guten! Wir sind nicht Düsseldorf!
Mir ist klar, dass genügend Menschen in unserer Bewegung ihren Spaß über alles stellen, leider. Dennoch wage ich einen Appel an die Vernunft: Ich denke, wir sollten unseren Aktivismus, unseren Spaß und -ja- auch unseren Egoismus mal für eine Weile hinten anstellen. So rein aus Vorsicht, rein als Zeichen, „wir sind die Guten“! Gerade in Momenten, wo restriktive Polizei genau das erwartet, dass wir Regeln brechen, dass wir unvernünftig sind, können wir zeigen, dass „wir“ eine Verantwortung für ALLE übernehmen (wollen)! Wir müssen eben nicht jedes Schlupfloch ausnutzen, sondern wir können deutlich zeigen: „besser erstmal vorsichtig„! Die Außenwirkung hunderter Radfahrer als Gruppe in einer Zeit, in der viele Menschen teils große Entbehrungen für sich und die Allgemeinheit auf sich nehmen müssen, ist ein Bärendienst für die Critical Mass Bewegung. Sie kann uns schnell in ein Licht der Unverantwortlichkeit stellen.
Und selbst wenn der Fall unwahrscheinlich ist oder erscheint, ein Infektionsherd auf einer Critical Mass (egal wo) wäre für die gesamte Bewegung ein GAU, ein Stigma, dass man kaum wieder weg bekommt. Exakt das wird riskiert, wenn wir fahren, als würde es diese Pandemie gar nicht geben. Dazu kommt: die Polizei, die uns ja nun seit einiger Zeit begleitet (obwohl wir das weder wollen, noch dass es überhaupt nötig wäre!), wovon wir sie kaum abhalten können, kann sich besser auf sinnvollere Maßnahmen konzentrieren: Menschenmassen an den Kölner Ringen, am Rheinboulevard und an anderen Hot Spots. Diese nötigen Kräfte (übrigens Menschen, die einen wichtigen Job machen!) müssen wir nicht auch noch bündeln, wenn wir eben vernünftig sind.
Ich halte ich es für wesentlich sinnvoller, ein paar Monate auf seine Beweggründe zu verzichten, um dann eben -und wenn es erst nächstes Jahr ist- massiv Präsenz zu zeigen: „seht her, wir waren vernünftig und gehen Euch genau jetzt mehr denn je auf die Nerven!“
Deswegen; fahrt Fahrrad, aber fahrt möglichst alleine!
1 Antwort bis jetzt ↓
1 Critical Mass 2020 – jan.schnasse // Aug 26, 2020 at 21:59
[…] http://www.radfahren-in-koeln.de/2020/08/25/physical-distancing-vs-critical-mass/ […]
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